• da
  • en
  • de

Die Unterirdischen

Man erkennt es sofort. Der Blick und die Stille, die entsteht, wenn man einen Bornholmer fragt, ob es die Unterirdischen gibt. Es ist, als ob die Frage etwas Privates berühren würde, etwas mit tiefen Wurzeln, und etwas, von dem man im Alltag nicht gerne spricht. Trotzdem haben viele Bornholmer ein ziemlich konkretes Grundwissen von den Unterirdischen, eine Geschichte von den Unterirdischen, die sie nacherzählen können, oder vielleicht haben sie sogar ein persönliches Erlebnis, das zweifellos in Beziehung zu den Unterirdischen zu setzen ist.

Aber wer sind die Unterirdischen eigentlich? Geht man auf Entdeckungsreisen in alten Schriften und Büchern, wird man finden, dass die Unterirdischen oft als ein Volk klein von Gestalt erwähnt werden, die in den vielen Grabhügeln der Insel, auf markanten Höhenzügen, in Felsenpartien, in groẞen Steinen oder auf anderen sonderbaren Stellen in der Landschaft leben. In den ersten niedergeschriebenen Erzählungen aus dem 17. Jahrhundert hört man, wie sie auf verschiedene Weise wie wir überirdischen Menschen leben – z.B. gründen sie eine Familie und bekommen Kinder wie wir. Sie werden oft als „kleine Wesen mit roten Mützen“ beschrieben, und in vielen Geschichten sind sie schwierig von den Menschen zu unterscheiden. Sie bestellen den Acker, backen Brot, trinken Bier und essen Würste, und machen so wilde Partys, dass man manchmal sieht, wie ein Grabhügel sich auf leuchtende Pfähle emporhebt, und man hört lebhafte Musik von innen herausströmen.

Die Beziehung der Unterirdischen zu den Menschen ist jedoch etwas ambivalent und auch gar nicht unproblematisch. Es wird nämlich auch erzählt, dass die Unterirdischen auf Raub ausziehen und versuchen sowohl Frauen, Kinder, Würste als auch Bier zu entführen, um dieses mit zurück in den Hügel zu bringen. Rachsüchtig können sie auch sein, wenn man z.B. in einen Grabhügel gräbt oder mit dem Traktor oder dem Pflug zu nahe heranfährt. Ganz schlimm ist es, wenn man das Vieh oben auf einer der Wohnungen der Unterirdischen weiden lässt, weil die Exkremente mit der Zeit durch den Boden sickern. So etwas kann Unruhe auf dem Hof verursachen, oder die Kühe geben keine Milch mehr. Es kann auch zur Folge haben, dass man verletzt wird oder, im schlimmsten Fall, stirbt. Die Unterirdischen können aber auch hilfsbereit sein. Sie können Getreide besorgen, wenn die Ernte fehlgeschlagen ist, oder den Weg dorthin zeigen, wo man Geld oder Schätze finden kann.

Einer, der sich eingehend mit den Unterirdischen beschäftigt hat, ist der Anthropologe Lars Christian Kofoed Rømer. Er beendete 2018 seine Doktorarbeit, die eine anthropologische Feldstudie über den Zusammenhang zwischen Sagen Bornholms und der Beziehung der Bornholmer zu der Landschaft ist. Nach ihm sind Sagen, Erzählungen und Erlebnisse mit unterirdischen Wesen ein wichtiger Teil von der Beziehung vieler Bornholmer zu der Natur und der Landschaft.

Lars ist stundenlang in der Landschaft Bornholms gewandert. Zusammen mit Jägern, lokalen Wander- und Museumsvereinen, Pfadfindern, Metalldetektor-Enthusiasten und Schulklassen ist er auf der Insel herumgewandert, um Einsicht in ihre Beziehung zur Landschaft, zur Natur und zu den Unterirdischen zu bekommen. Heute hat er die Firma „Sansâga“ zusammen mit Rikke Houd und Jón Hallur Stefánssons gegründet, die, wie er selbst, eine Faszination für die nahen, lokalen Erzählungen und Landschaften empfinden. Sansâga produziert unter anderem kurze Wandergeschichten – kleine ortsspezifische Podcasts, denen man über die App Sansâga Walks zuhört, während man geht – z.B. die Erzählung davon, wie die Unterirdischen Hammershus gebaut haben.

„Für sehr viele Leute ist die Landschaft voll von Erzählungen, und für viele sind sie an die Unterirdischen geknüpft,“ sagt Lars. „Diese Geschichten sind eine Art kulturbewahrende Aktivität. Wenn Eltern und Groẞeltern Erzählungen an Kinder und Enkelkinder weitergeben, schafft es eine Form von Bindung an die Natur und an besondere Stellen. Es erhält auch soziale Normen dafür aufrecht, wie man in der Natur agiert und sie behandelt,“ erklärt er. „Eine Geschichte könnte bewirken, dass man z.B. einen besonderen Respekt vor einem bestimmten Gebiet im Wald hat.“ Es gibt auẞerdem einen groẞen Zusammenfall zwischen Geschichten von den Unterirdischen und archäologischen Funden auf Bornholm. Das könnte widerspiegeln, dass die Erzählungen nicht immer nur Geschichten, sondern vielleicht eher Zeichen von physischen Spuren unserer Vorväter sind, meint Lars.

Ähnliche Geschichten gibt es an vielen anderen Orten in Dänemark, aber auffallend an den Erzählungen Bornholms ist, dass sie nicht nur Geschichten sind, die in der Märchenwelt „einmal vor vielen Jahren“ spielen. Auf Bornholm leben nämlich auch heute Menschen, die von eigenen Erlebnissen und Begegnungen mit den Unterirdischen erzählen können. Z.B hat ein Mann in Olsker sich das Bein gebrochen und ist beinahe an einem Bienenstich gestorben, kurz nachdem er das Feld so tief gepflügt hatte, dass ein groẞes Gräberfeld plötzlich offenbart wurde. Ein anderer, Bjørn aus Gudhjem. litt an Schlaflosigkeit, nachdem er ein Felsstück in seinem Garten weggesprengt hatte. Jede Nacht wurde sein Schlaf von dem Geräusch von irgendetwas gestört, das andauernd durch sein Schlafzimmer lief. Und Klaus, ein fleiẞiger Freizeitarchäologe aus Østerlars, hat erlebt zu einem Feld von einer Stimme geradezu gerufen zu werden. Der letzte Schnee war gerade geschmolzen, und dort auf dem Feld, nur ein paar Meter von ihm entfernt, sah er eine kleine goldene Figur, – ein goldenes Figürchen wie die, die es zu Tausenden in „Sorte Muld“ bei Svaneke gibt – die einfach dalag und darauf wartete gefunden und in Sicherheit gebracht zu werden. Ein viertes Beispiel ist Dorthe aus Østermarie, die vor gut 20 Jahren zwei Unterirdische auf Wanderung in Poulsker Plantage sah. Während sie ganz in eigenen Gedanken auf einem Baumstamm saẞ, sah sie aus den Augenwinkeln zwei kleine Gestalten, die eine davon eine kleine Frau, die sie neugierig betrachtete. Auch Loa, die als Kind im Campingurlaub in Vang mit ihren Eltern war, sah einen der Unterirdischen, als sie auf einem Steinhügel auf Hammeren spielte. Als sie in den Steinhügel guckte, erschrak sie, denn sie erblickte ein Männchen mit einer groẞen, weiẞen Bart und einem spitzen Hut. Der Hut war aus Blättern mit einem roten Band darin gemacht. Auch heute können viele Menschen auf Bornholm Geschichten erzählen, die von Erlebnissen oder Begegnungen mit den Unterirdischen handeln.

Obwohl viele wahrscheinlich ein wenig lächeln oder den Kopf schütteln werden, ist es vielleicht nicht so merkwürdig, dass viele Bornholmer das Gefühl haben, dass es etwas Lebendiges in der Landschaft gibt. Etwas, das man beschützen und achten soll. Und man tut klug daran, die Unterirdischen zu achten. Besonders wenn man nicht Bornholmer ist. Die Unterirdischen Bornholms sind nämlich militant und kümmern sich nicht nur um die eigene Wohnung, sondern um die ganze Insel und die Landschaft. Im Laufe der Zeit sind sie in Zeiten mit Unfrieden in zahllosen Fällen gesehen und gehört worden. Sie marschieren durch die Landschaft mit Trommeln und Flöten, oder reiten auf groẞen Pferden mit Uniformen und einer Ausrüstung, die wie Gold und Silber blitzen – alles um dem Heer Bornholms damit zu helfen, sich zu verteidigen und den Feind zurückzuschlagen, wenn dieser versucht an Land zu gehen, um die Insel zu erobern. Die Geschichte Dänemarks hat zweifellos tiefe Spuren in den Bornholmern hinterlassen, da sie manchmal, in Zeiten mit Unfrieden, die Hilfe von dem dänischen Königshaus und dem Staat als minimal auffassen. Es herrscht ein Gefühl, dass Bornholm meistens sich selbst überlassen ist, und dass es dagegen die unterirdische Armee ist,- und auch die Leute, die den Willen und den Mut gehabt haben, die Verteidigung der Insel höher als ihr eigenes Wohlbefinden zu setzen –  der man dafür danken soll, dass Bornholm immer noch Dänisch ist. Bornholmer heute können auch davon erzählen, dass sie die unterirdische Armee gesehen haben. Z.B. Viola aus Poulsker, die als 9 oder 10-Jährige an einem Sommertag Walderdbeeren am Straẞenrand pflückte, als sie plötzlich in der Ferne Militärmusik hörte. Als sie aufsah, erblickte sie eine kleine Kompanie von rotgekleideten Wesen, die mit Trommeln und Trompeten die Landstraẞe entlanggingen.

Listen to
„Underjordisk Modstand“ on Spreaker.

www.spreaker.com

Haben Sie Lust auf weitere Erzählungen von der Landschaft Bornholms, können sie die App Sansâga Walks auf www.sansagawalks.dkherunterladen. Die Wanderungen werden im Laufe des Sommers 2020 lanciert.


ANDERE LEZEN OOK

Sandvig Minigolf

NaturBornholm

Østerlars rundkirke

Nordische Kultur in Flaschen

Hammershus

helligdomsklipperne