Text: Martin Poul Gangelhoff
Foto: Anders beier
Zunächst hört man das leise Geräusch. Das rieselnde Geräusch, das nur flieẞendes Wasser erzeugen kann. Das Bauernmädchen bleibt stehen und lauscht noch einmal. Es ist früh am Morgen, und der blaue Schimmer der Morgendämmerung gibt nicht viel Licht in den Wald. Obwohl das junge Mädchen den Weg gut kennt, seufzt sie trotzdem erleichtert auf, als sie rieselndes Wasser hört. Das bedeutet, dass die Quelle in unmittelbarer Nähe ist. Es ist auch gut so, denn sie muss zurück, ehe der Verwalter aufsteht und feststellt, dass seine Melkerin fehlt. Sie orientiert sich an dem Geräusch des rieselnden Wassers und läuft quer über eine Decke von Bärlauch, die den Waldboden ziert. Der Tau der grünen Blätter befeuchtet den umgekrempelten Teil ihrer blau gestreiften Hose, die dadurch dunkler wird.
Plötzlich wird das Geräusch stärker. Als sie die Quelle erblickt, bleibt sie stehen. Die beklemmende Angst im Magen hält sie zurück, und in unentschlossener Frustration fährt sie mit beiden Händen durch ihr langes, blondes Haar. Was ist, wenn jemand kommt? Im schlimmsten Fall würden sie sie zu einer Hexe stempeln. Sie zögert, aber nicht besonders lange, denn die Entscheidung ist bereits getroffen. Ihr Bruder liegt zu Hause mit starken Schmerzen und kann nicht länger seiner Arbeit nachgehen. Wenn er fliegt, riskiert er, als ein Bettler zu enden. Das würde ihr Herz nicht ertragen können.
Sie kniet vor der lebendigen Quelle, entfaltet ein weiẞes Tuch, das eine verkohlte Holzfigur enthüllt, eine groẞmütterliche Frau mit groẞen Brüsten. Sie legt die Figur ans Herz, beugt sich nach vorn und spricht ein Gebet zum Wasserspiegel der Quelle. Dann gräbt sie mit ihren gehärteten Mädchenhänden die Figur in die feuchte Erde. Aus ihrer Hose holt sie die alte Weinhaut der Familie hervor und füllt sie mit heiligem, heilendem Wasser. Als die Haut vollständig gefüllt ist, schnürt das Mädchen die Öffnung zu, läuft nach Hause und überlässt das Wasser seinem ewigen Rieseln.
Für den modernen, privilegierten Menschen ist das Geräusch von Wasser bloẞ die Hintergrundmusik der Natur, die wir genieẞen können, wenn wir im Grünen spazieren gehen. Für unsere Vorfahren aber war es der Klang von Leben, Mystik und Hoffnung. Ein Ur-Gesang, an dem man sich hat orientieren müssen, um zu überleben. Auf Bornholm gibt es auf der ganzen Insel eine ganze Symphonie von Quellen, die durch Jahrtausende lebensspendendes Wasser aus den Seen im Untergrund Bornholms herausgeholt haben.
Heute wissen wir, dass diese Quellen entstehen, wenn Regenwasser durch Erd- und Gesteinsschichten dringt, sich in unterirdischen Bächen sammelt, und dort, wo diese Bäche die Oberfläche der Erde durchbrechen, finden wir eine Wasserquelle. Aber die Menschen in den alten Tagen hatten dieses Wissen nicht. Stattdessen hat der Volksglaube ihnen Erklärungen geliefert.
Besucht man heute eine der Bornholmer Quellen, kann man sich im Schutz der Bäume vorstellen, wie verschiedene Szenarien sich an der Quelle abgespielt haben. Wie die Leute zu den heiligen Quellen gepilgert sind: vom Steinzeitmenschen bis zu den Eisenzeitmenschen, von Asagläubigen Wikingern bis zu den christlichen Bauern im Mittelalter. Zu gewissen Zeiten ist der Besuch an der Quelle ein Festtag voller Rituale und Lieder gewesen, während er zu anderen Zeiten eher gedämpft verlaufen ist. Oder aber in anderen Situationen – wie in dem vorhin genannten, erfundenen Beispiel mit dem Bauernmädchen – musste der Besuch aus Furcht vor Repressalien oder Demütigungen im Geheimen stattfinden.
Ein gemeinsames Merkmal der Faszination der Vorfahren für die Quellen ist die Reinheit des Wassers. Sauberes Wasser ist für uns heute eine Selbstverständlichkeit. Heute können Eltern in Dänemark ohne Weiteres ihren Kindern ein Glas Wasser aus der Leitung geben, während früher die lebensnotwendige Aufnahme von Wasser mit Risiken verbunden war. Es war alles andere als selbstverständlich, dass alle Wasserquellen sicher waren. Unsichtbare Bakterien gelangen leicht in das Wasser. Es braucht nur eine tote Ratte, die in das Wasserloch fällt, und das Wasser hat sich in Gift verwandelt. Davon können Menschen in weniger wohlhabenden Ländern immer noch berichten. Dort fordern über Wasser getragene Krankheiten wie Cholera und Legionella täglich Menschenleben.
Die Quellen Bornholms befinden sich geschützt und sicher unter der Erde, aus denen das saubere Wasser seit Jahrtausenden in einem stetigen Strom flieẞt. Dies ist die wesentliche Tatsache hinter dem Mythos, dass das Wasser der Quellen keine Krankheiten verbreitet. Und wenn das Wasser in den Quellen das nicht tut, ist es auch nicht abwegig zu denken, dass das Wasser auch heilen kann, und dass die Quellen heilig sein müssen.
Das saubere Wasser, das die Erde sowohl gefiltert hat als auch mit Mineralien versorgt hat, hat zwar auch bei manchen einfachen Krankheiten eine wohltuende Wirkung, so wie das Wasser in der Vergangenheit auch die beste Alternative zur Reinigung von Wunden und Furunkeln gewesen ist.
Der Status der Quellen als „heilig“ muss sowohl in einem christlichen als auch in einem heidnischen Kontext gesehen werden. Der heidnische datiert aus der Zeit, als die ersten Menschen sich auf Bornholm niederlieẞen und lernen mussten, von dem Boden der Insel zu leben. Die Quellen haben zweifellos einen zentralen Platz in den mythologischen Erzählungen des Steinzeitmenschen erhalten, gleichberechtigt neben der Verehrung der Sonne, des Meeres und des Frühjahrs. Die Mythologien haben sich in Übereinstimmung damit geändert, dass sich die Kultur und die Religion auf Bornholm geändert haben. Aber der Umstand, dass manche der Quellen auch als heilkräftig galten, hat sich vermutlich bis in die jüngste Zeit erhalten.
Im frühen Mittelalter spielte die Verehrung der Quellen immer noch eine bedeutende Rolle in Dänemark. Aufgrund der allgemeinen Tendenz der katholischen Kirche, vorchristliche, religiöse Bräuche und Symbole zu übernehmen und sie sich zu eigen zu machen, wurde in der Nähe von zahlreichen dänischen Quellen eine Kirche gebaut, und einige wurden auch nach einem Heiligen benannt. Auf Bornholm ist das deutlich in den Namen der 9 heiligen Quellen der Insel zu sehen, von denen 6 Namen tragen, die mit der Kirche verbunden sind: Salomons-kilde (Quelle = kilde) auf Hammeren, Sankt Hans-kilde in Svaneke, Biskop-kilde bei Bukkegård, Sankt Josephs-kilde in Tejn, Helligdoms-kilde bei Rø, Præste-kilde in Ibsker, Stokke-kilde in Aakirkeby, Kolle-kilde in Almindingen und Trolde-kilde in Klemensker.
Historische Dokumente weisen nach, dass, wo die heiligen Quellen vor der Reformation im Jahre 1536 einen zentralen Platz in der Theologie und der Praxis der Kirche einnahmen, viele Quellen bereits 100 Jahre nach der Reformation ihre Bedeutung für die nun lutherische Kirche verloren hatten. Die Lehre der Reformation – in ihrer Konfrontation mit dem Katholizismus – bedeutet, dass es bei dem christlichen Glauben in erster Linie um das innere Geistesleben des Individuums geht, nicht zuletzt um die Beziehung des Individuums zu Gott. Die Lehre lässt keinen Raum, das Christentum anderswo als im Gebet und in der Kirche zu praktizieren. Im Gegenteil kann man sich leicht vorstellen, wie die ererbten religiösen Rituale, so wie die Verehrung der heiligen Quellen, nach der Reformation bestenfalls als primitiver Aberglaube diffamiert, und im schlimmsten Fall als Hexerei und Zauberei dämonisiert wurden. Die Teile des Volksglaubens, die die katholische Kirche angenommen hatte, wurden jetzt lächerlich gemacht und in dem Geschwätz auf dem Marktplatz und in der Predigt des Pfarrers in der Kirche entehrt.
Aber daheim in den Bornholmer Stuben haben die Erzählungen über die heiligen Quellen als Ammenmärchen und Legenden weitergelebt. Und ganz gleich, was die Kirche über die Quellen dachte, die Geistlichen konnten die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, dass das Wasser in den Quellen sauber, nahrhaft und in vielen Fällen auch eine heilende oder lindernde Wirkung auf Kranke hatte. Die Bevölkerung hat deswegen weiterhin die Quellen aufgesucht, und viele haben sie wohl auch im Verborgenen verehrt.
Der Volksglaube von den heiligen Quellen bekam aber Mitte des 18. Jahrhunderts einen neuen Gegner, als die Gedanken der Aufklärung Dänemark regelrecht überrollten. Die Denker der Aufklärung akzeptierten weder Wunder noch Magie. Der Aberglaube musste der Vernunft weichen, und deshalb sollte die Wissenschaft alle Phänomene der Natur erklären. Ob die damaligen Gedanken der Aufklärung den heiligen Quellen als eindeutigem Volksmythos den Todesstoẞ versetzten, ist unklar. Aber da die Aufklärung die säkulare, moderne, rationale Gesellschaft, die wir heute haben, gründete, hat diese Bewegung langfristig dazu beigetragen, dass die uralte Verehrung der heiligen Quellen für die meisten Menschen nur noch eine Kuriosität ist.
In moderner Zeit jedoch haben die heiligen Quellen zwei Renaissancen erlebt. Das erste Mal als Gegenreaktion auf das rationale Denken, als die Künstler und Eiferer der Romantik die Natur als etwas, das man empfinden und nicht erklären soll, wiederentdeckten. Die zweite Renaissance folgte unmittelbar nach der Romantik, aber aus anderen Ursachen. Diesmal auf Anregung der Wissenschaft, wo man Anfang des 20. Jahrhunderts eine Theorie hatte, dass radiumhaltiges Wasser für die Behandlung verschiedener Krankheiten gut sei. Aufgrund des Grundgesteins enthalten die Quellen Bornholms mehr Radium als viele andere Quellen, und dies lockte die Menschen, die wir heute „Wellness“- Touristen nennen, auf die Insel. 1920 wurde bei Rosenkilden auf Hammeren sogar eine Mineralwasserfabrik gebaut, die die Marke Radium Apollinaris herstellte. Es dreht sich jedoch um radioaktive Stoffe in äuẞerst geringen Mengen, die weder schädlich noch heilsam sind. Es war dann auch kein dauerhaftes Geschäftsmodell, und als das Interesse an Radium verschwand, wurde die Fabrik geschlossen
Aber in Bornholms Natur rieselt das Wasser immer noch. Kalt und klar flieẞen Ströme sauberen Wassers aus dem Untergrund Bornholms durch uralte Senken durch die Landschaft. Die heiligen Quellen leben ihr ruhiges Leben bei bestem Wohlergehen weiter. Sie sind ein Stück lebendige Geschichte, das seit jeher ein Sammelpunkt für die Menschen auf Bornholm ist. Schon deshalb sind die Quellen einen Besuch wert. Aber im Gegensatz zu den historischen Gegenständen der Museen oder den Ruinen in der Landschaft sind die heiligen Quellen eine unvollendete Geschichte, an der man selbst ein Teil werden kann. Denn besucht man eine der neun heiligen Quellen der Insel, ist das gleichbedeutend damit, dass man das rieselnde, stille Rufen des Wassers gehört hat und jetzt dort steht, wo schon Tausende unserer Vorfahren früher standen. Hier kann man der Quelle für ihr lebensspendendes Wasser danken, man kann einen Schluck trinken um herauszufinden, ob es wirklich eine besondere Kraft hat, oder man kann einfach das Geräusch des rieselnden Wassers genieẞen und die Gedanken in die Vergangenheit schweifen lassen. Die uralten Quellen sind zweifellos einen Besuch wert.