Da wo der lange Kiesweg mit Aussicht auf die Ostsee und die wogenden Felder endet, steht ein hohes, weiẞes Gebäude mitten in der Landschaft. Zwei Personen, ein aufrechter Mann und eine schöne zierliche Frau treten aus der Tür, indem wir vor das Haus fahren. Das wilde Kraushaar lässt sich im kalten Februarwind von der Spange nicht zähmen, aber bildet einen lebenden Rahmen um die lebendigen, freundlichen Augen, wenn Inge Lise Westman uns mit einem ruhigen Lächeln Willkommen heiẞt. Gerade bricht die Sonne nach nassen und dunklen Wintermonaten hervor. Die Bäume um den alten Hof werfen lange Schatten bis in die erhellten Winkel, wo groẞe Skulpturen von Inge Lise in die Landschaft und den Garten integriert werden. Ihr Lächeln dämpft meine Nervosität.
Ich werde ihre Wintergemälde sehen. Denn Inge Lise vermisst den Schnee. Sie vermisst die Ruhe und das weiẞe Licht, die die Elemente der Natur mit Stille umarmen. Wenn der Winterschnee nicht zu Inge Lise Westman kommt, dann schafft sie ihn selbst. So ist sie die zierliche kleine Frau mit den warmen lebendigen Augen. Mit den bald 75-jährigen Händen werden Werke geschaffen, wo die Natur und die Landschaft in exzentrischen und unmittelbaren Deutungen zentriert und festgehalten werden. Ich bekomme sie zu sehen, die Werke, aber zuerst gibt es Kaffee und geröstete selbst gebackene Brötchen mit Honig von einem der Honig-Projekte Oles.
Ole Hertz und Inge Lise feierten voriges Jahr ihre Goldene Hochzeit. In ihrer Nähe merkt man eine seltene Symbiose zwischen Kunst und Naturwissenschaft. Es ist, als rahmten das Haus, die Werkstätte und das Atelier eine gemeinsame Erzählung ein. Das Wunderbare aber auch das Zarte der Natur sind Drehpunkt für viele gemeinsame Projekte gewesen. Von dem groẞen Interesse für Phänomene in der Natur erzählt Inge Lise mit stiller Stimme: “Schon damals in der Kunstakademie, Ende der Sechziger Jahre und Anfang der Siebziger Jahre, gab es viele, die irgendwie revolutionär arbeiteten. Es lag in der Zeit, es gab Frauengruppen und viel Politik, für das man sich engagieren sollte. Aber so war ich gar nicht. Ich möchte mich bloẞ in die Kunst vertiefen. Ich war vielleicht ein bisschen ein Nerd und anders“.
Überall im Haus sieht man Kunst- und Natur-Gegenstände aus Holz und Steinen, Ethnografika – alles ordentlich angebracht. Das Haus, das sie 1971 gekauft haben, hat seitdem den Rahmen um das gemeinsame Leben gebildet, wo die Kunst und die Natur jedem einzelnen Raum Leben geben. Jede Kleinigkeit erzählt eine Geschichte. Alle Anbauten bestehen aus gediegenem Altmaterial. Die Fenster in Inge Lises Werkstatt und Oles Arbeitszimmer sind mehr als 100 Jahre alt und stammen von dem ehemaligen Krankenhaus in Nexö. Der alte Hof bildet den Rahmen um das Leben mit der Kunst und der Kreativität. Inge Lise Westman lebt mit der Kunst überall und bis ins Herz. Jetzt sitzt sie in der warmen Küche und sieht zurück auf ihre Karriere und eine Produktivität, die Ehrfurcht erregt.
Sie ist in der Königlichen Dänischen Kunstakademie ausgebildet. Erst in der Malerschule bei dem Professor Søren Hjort Nielsen und später in der Fachhochschule für Grafik bei dem Professor Palle Nielsen. Durch die Jahre hat sie mit klassischer Ölmalerei gleichzeitig mit Zeichnungen, Radierungen, Kaltnadel, Ätzungen, Monotypien und Steindruck gearbeitet. Sie hat skulpturale Werke, Abgüsse, Gemälde, Graphik geschaffen. Mehr als 40 Jahre lang hat sie ihre Sinneseindrücke von der Natur vermittelt, sie hat unzählige Ausstellungen sowohl im Inland als im Ausland gehabt. Sie erzählt lebhaft von einigen der Ausstellungen und verrückten Projekte, die sie gemacht hat: „Einmal haben wir auch gefilmt, dass ich in meinem Brautkleid gemalt habe. Das war in Verbindung mit der Ausschmückung der ehemaligen Bornholmer-Fähre Dueodde. Es endete damit, dass ich im Steven wie in „Titanic“ stand – das hat Spaẞ gemacht.“ – „Ja, es gab ja immer mehr Farbkleckse“, setzt Ole fort. Heute fährt die Fähre bei Australien mit Inge Lises Gemälden. „Die Käufer bestanden darauf, dass sie bleiben sollten,“sagt sie mit einem stillen Lachen. Später findet Ole ein Foto von Inge Lise im Brautkleid und mit Pinsel. Als ich frage, ob sie immer noch das Brautkleid hat, strahlt sie: „Es ist wahrscheinlich irgendwo da, vielleicht wäre es gut für eine retrospektive Ausstellung“. Derzeit steht die kommende Sonderausstellung im Spätsommer 2020 auf „Svanekegården“ im Fokus.
Nach dem Kaffee in der warmen Küche mit den rohen Fuẞbodenbrettern, massiven Holztäfelungen und dem lauernden, langen Narwalzahn am Haken bewegen wir uns im Haus herum durch geschnörkelten Winkel, um ein paar Ecken herum, eine Treppe hinunter in die grafische Werkstatt. In der geräumigen, ovalen Werkstatt steht eine groẞe, altmodische Druckpresse umgeben von Arbeitstischen mit Papieren und Werkzeug. Eine groẞe Steintafel auf einem Arbeitstisch erweckt meine Aufmerksamkeit, und wir reden von ihrer Arbeit mit Grafik und Radierungen, womit sie parallel mit den gröẞeren Ölarbeiten arbeitet. Besonders die Technik mit Steindruck fasziniert sie: „Ich habe vor vielen Jahren die Technik auf den Färöern gelernt. Da oben auf den Inseln benutzen sie diese Technik oft, es ist ein altes Handwerk und eine Technik, die viele vergessen haben. Erinnert ihr euch an die ehemaligen Pakete mit Haferflocken – die mit dem frohen Jungen? Das ist Steindruck!“
Die Arbeiten, mit denen sie gerade arbeitet, liegen auf dem Tisch. Die akkuraten, wohlangebrachten aber auch wilden Striche, bilden tiefe, geritzte Einheiten und Umrisse von Wald und Tannen. Sie vermitteln raue Eindrücke von Elementen der Natur. Ole geht zusammen mit uns durch die Werkstätten. Wir sind in ihrem Heim und nicht nur in Inge Lises Werkstatt. Während Inge Lise spontan nach einem Haufen Publikationen sucht, die, wie sie findet, wir haben sollen, erzählt Ole mit eifriger Stimme von all dem, was die beiden in ihrem Leben zusammen erlebt und geschaffen haben. Oles Ausbildung als Ethnologe und Forscher hat sich auf erstaunliche Weise mit Inge Lises Interesse für die Strukturen und Ausdrücke der Natur vereint. Sie haben eine einzigartige Zusammenarbeit, immer mit Basis auf dem Hof. Ole hat sich in globalen Projekten mit Bienenzucht engagiert – von Bornholm über Läsö und Grönland bis Mittelamerika, Sibirien und Afrika. Zusammen haben sie Ausstellungen mit Blumen und Bienen geschaffen – mit Oles Fotos und Fachkenntnissen und Inge Lises Werken und Skulpturen, z.B. der enormen Bienen-Raupe, die sich nach einer Reise zu den Museen in Faaborg bzw. Sonderburg, jetzt im groẞen Garten verpuppt. Das Haus, die Werkstätten und das Atelier sind der Basis gewesen, wo die Kunst, die Kinder und die Projekte geboren und geformt wurden. Das Haus ist sowohl der Ausgangspunkt für Inge Lises viele Engagements als Mitglied von dem namhaften Künstlerverein „Koloristerne“ in Kopenhagen, von „Holkahesten“ auf Bornholm als für ihre zahlreichen Ausgestaltungsprojekte im ganzen Land als auch für Oles internationale Bienenzuchtprojekte. Ich frage, ob sie im Alltag einige Rituale haben. „Wir frühstücken zusammen, wir essen Lunch zusammen. Das liegt fest. Alles dazwischen ist flexibel“, antwortet Inge Lise. Es ist ein Leben mit Flow,wo die Kunst und der Schaffensdrang völlig zentral sind.
Jetzt nähern wir uns dem Atelier mit den Wintergemälden. Wir treten durch die groẞe Glastür mit Panoramaaussicht auf den Garten und die Plantagen mit Apfelbäumen und Büschen. Über der Terasse – und hier unter dem Pultdach, steht ein kleiner Wald von Gipstannen mit flatternden, weiẞen Schnüren. Sie sehen aus wie schneebedeckte Tannen mit Eiszapfen, die im Wind wehen und von der Spontanität in Inge Lises Kunst zeugen. „Ja, in diesem Winter bekam ich groẞe Lust sie zu machen. Dort stehen sie flatternd und sollen ausgestellt werden, aber noch sind sie wohl nicht ganz fertig“,sagt sie. Die Tür zum Atelier wird geöffnet – und da sind sie – die Wintergemälde. In dem groẞen Raum stehen die enormen Gemälde, doppelt so groẞ wie Inge Lise und 4 bis 5 Meter lang, neben kleineren halbfertigen oder fertigen Werken, an den Wänden gelehnt oder in Ständern angebracht. Leinen-Rollen, der Duft von Ölfarbe in einer umgebauten Scheune mit Farbflecken auf dem hölzernen Fuẞboden und von oben einfallendes Licht. Die Schneelandschaften sind wild, stofflich und gleichzeitig still und systematisch. Erst nach einer Weile bemerke ich die vielen Tiere im Raum. Reihen von schwarzen Saatkrähen, eine Installation von der Ausstellung „Sjymma“ in dem Kunstmuseum Bornholms 2017, eine Menge von ausgestopften Hasen und Möwen in den Ecken. Ich stelle Fragen zu den vielen Hasen – und klatsch, dann liegt ein groẞer Gummi-Hase auf dem Fuẞboden. „Ich habe ja Hasen gesammelt“,sagt sie und lacht, „diese beiden wurden für eine Ausstellung im Museum Bornholms gemacht. Es war wohl die Absicht, dass die Kinder mit ihnen spielen durften, aber vielleicht bekamen sie eher Angst“. Wir betrachten zusammen die Oberfläche, grünliche Hautfalten – wie auf einer Moorleiche, so wie in den Erzählungen ihrer Werke von der Natur. Die melancholischen Landschaften mit verlockenden, aufgelösten Formen. Werke, wo nicht nur das Leben, sondern auch die Vergänglichkeit der Natur und die Schönheit der Fäulnis in düsteren Kompositionen mit Spalten von Licht und Hoffnung eingefangen werden.
Das Spiel mit den Materialien und die spontane Arbeitsmethode ist deutlich. Hier im Atelier stehen dicke Abgüsse in Bronze von den schweren Platten aus Ton, die Inge Lise auf sonderbare Art gegen die lebenden Konturen eines Baumstamms gedruckt hat. Sogar das Leinen auf den Rahmen der groẞen Gemälde montiert sie selbst. Das Wechseln zwischen den verschiedenen Arbeiten – vom Schweren zum Leichten, wie macht sie das? Ich frage, ob sie Pausen macht? „Natürlich, aber dann kann man ja eben einen Kohlkopf gieẞen“, sagt sie, und bewegt sich leicht und schnell zu einem Tisch mit Kohlköpfen in Gips, Spitzkohl und Romanesco. Sie gibt mir einen gegossenen Kohlkopf in die Hände. Plötzlich verschwindet der Kohl, und es kommt mir vor, dass ich mich mitten in einem Naturphänomen befinde, ich betrachte die Hasen, die Möwen, die schwarzen Saatkrähen, die Vergänglichkeit der Natur und die enormen Gemälde. Inge Lise ist keine gewöhnliche Frau, keine gewöhnliche Künstlerin. Es steckt eine starke Kraft in dem zierlichen Körper mit den kleinen Händen und den groẞen, freundlichen Augen. Wildheit und Passion, Nähe und Fürsorge, Licht und Dämmerung.
„Möchtest du einen Apfel? Aus unserem Garten“,fragt sie und reicht eine schöne Keramikschüssel mit kleinen, roten Äpfeln zu mir hin, als wir wieder in dem Wohnzimmer sind. Man hat das Gefühl wieder von der Fürsorge einer Oma umgeben zu sein, wie am Kaffeetisch mit den gerösteten Brötchen. Inge Lise Westman umgibt sich überall mit der Kunst. Aber die Kunst wohnt auch in Inge Lise Westman.