Text: Pernille Koch Laursen
Foto: Anders beier
An einem frühen Morgen 2001 klingelt Rikkes Telefon in Allinge. Es ist ihre Mutter Ruth, die aus dem Elternhaus auf Frederiksø anruft. – „Kommst du nach Hause, oder was?“, fragt sie mit einem starken, jütländischen Dialekt, und Rikke hört am Klang ihrer Stimme, dass es ernst gemeint ist. Jetzt muss eine Entscheidung getroffen werden, die ihr Leben für immer verändern könnte.
Die Frage kam von einer Frau, die 33 Jahre lang ein kleines Unternehmen am östlichsten Punkt Dänemarks geführt hatte, und jetzt bereit war, ihre Arbeit weiterzugeben. Eine Frau, die mit unermüdlichem Fleiẞ, Willenskraft und unternehmerischem Talent, ein erfolgreiches Unternehmen geschaffen hatte, das eines der begehrtesten Lebensmittel aus dem Meer herstellt: Ruths Kräuterheringe.
Wir treffen Ruth in ihrem Haus auf Frederiksø. An der Wand im Wohnzimmer hängen Motive von Fischkuttern und Meer, und oben auf der Vitrine steht Keramik von Michael Andersen in Rønne. Einer der Fischkutter ist von Henning Køje gemalt, der nebenan gewohnt hat. Ein Brief von ihm bekam völlig unbeabsichtigt eine besondere Bedeutung für die Geschichte von Ruths Kräuterhering.
Ruth wuchs in einer kleineren Stadt südwestlich von Herning in Jütland auf. Das Elternhaus in Kølkær war voller Kinder und Unternehmungslust. Das Unternehmen war notwendig, weil das Geld knapp war. Es wurde also hart gearbeitet und alle machten mit. Auch Ruth, die, zusammen mit der Zwillingsschwester Else, die jüngste der groẞen Kinderschar war. Und es gab genug zu tun, denn Ruths Vater war ein Mann mit vielen Plänen, der sich keine Gelegenheit entgehen lieẞ, ein gutes Geschäft zu machen. Er kaufte unter anderem eine Apfelplantage, ein paar Kühe und andere Nutztiere, und die Verarbeitung der daraus gewonnenen Produkte wurde von Ruths Mutter und den Kindern übernommen. Ruth stand früh auf und ging spät ins Bett, denn auẞer Arbeit gab es natürlich sowohl Schule als Turnen. So war es, und so blieb es das ganze Leben lang; früh aufstehen und spät ins Bett gehen und der Tag voll harter Arbeit.
Im Alter von 16 zog Ruth nach Christiansø. Sie packte alles, was sie besaẞ – und das war nicht viel -und machte sich auf den langen Weg von Kølkær durch ganz Dänemark um sich auf dem äuẞersten östlichen Punkt von Dänemark, den Festungsinseln Ertholmene, niederzulassen. Sie hatte zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Else einen Sommerjob in der Küche des Hotels auf Christiansø angenommen. Else blieb den Sommer über da, aber als sie nach Hause reisen wollte, machte Ruth es ihr klar, dass sie alleine reisen musste. Sie hatte vereinbart, den Winter über in der Küche zu bleiben. Ruth wurde jetzt Inselbewohnerin, und so sollte es bleiben. Sie ist nie wieder zurück nach Jütland zur Familie gezogen.
Ruth erzählt mit groẞem Einfühlungsvermögen von dem Milieu von damals auf den Inseln, von dem sie ein aktiver Teil wurde. Viele würden sie für eine Pionierin und Wegbereiterin halten, aber Ruth scheint auffallend unbeeindruckt von ihrem eigenen Einsatz für die kleine Inselgemeinschaft von mittlerweile ungefähr 100 Einwohnern. – „Ich bin ja bloẞ ich“, würde sie wahrscheinlich sagen, würde man anfangen sie zu sehr zu loben. Damals – Ende der 1950er Jahre – waren die Inseln eine typisch männerdominierte Gemeinschaft. Die Männer waren unter sich und saẞen gerne zusammen im Gasthaus und tranken Bier, während die Frauen und die Mädchen meist zu Hause blieben. Aber Ruth konnte sich mit dieser Rollenverteilung nicht abfinden. Sie wollte mit all ihrer Energie und ihrem Tatendrang lieber etwas tun, also gründete sie eine Turnmannschaft für Frauen, die zusammen im Gemeindehaus „Månen“ auf Christiansø trainierten. Es wurde sehr populär, denn endlich geschah etwas Anderes und Neues. Bald war eine Gruppe von 14 Mädchen gesammelt und sie übten den ganzen Winter über für das groẞe Schauturnen unter der Leitung von „Fräulein Ruth Dahl“, wie es damals in der Berichterstattung der Bornholmer Zeitung von der Veranstaltung hieẞ.
Auf Christiansø verliebte sich der junge, einheimische Fischer, Lasse, in die unkomplizierte Zuzüglerin aus Jütland, aber er gewann nicht sofort ihr Herz. Ruth fand einen anderen Fischer, heiratete ihn und bekam die Tochter Tena. Als aber die Ehe endete, war Lasse sofort da, und Ruth verstand, dass er es ernst meinte. Sie heirateten und zogen in eine kleine Wohnung auf Christiansø. Hier bekamen sie erst Rikke und später ihre Schwester Gitte.
Wie die meisten Fischerfrauen damals, hatte Lasses Mutter, Minna, ihr eigenes Rezept für gewürzte Heringe. Minna und Ruth bauten im Laufe der Zeit eine enge Beziehung auf, und Ruth half oft bei der Produktion von Minnas Heringen. Am Anfang wurden die Kräuterheringe in Minnas eigener Küche hergestellt. Die Einheimischen mochten Minnas Heringe, und bald ging auch auf Bornholm das Gerücht um, dass auf Frederiksø Heringe mit einem besonders guten Geschmack hergestellt wurden.
1967 starb Minna im Alter von 54 Jahren an Krebs. Aber ehe sie diese Welt verlieẞ, sorgte sie als Letztes dafür ihr Geheimrezept für Kräuterhering weiterzugeben, das sich im Laufe der Zeit bewährt hatte. Auf der Rückseite eines Briefes von dem Künstler Henning Køje schrieb sie schnell das Rezept auf und gab es Ruth. Da saẞ nun Ruth zusammen mit Lasse und der neugeborenen Rikke in Minnas nun stillem Heim und musste sich entscheiden, was sie mit dem Wissen anfangen sollte, das sie von ihrer Schwiegermutter geerbt hatte.
Ruth wusste, dass das Rezept etwas Besonderes war. Sie wusste, mit welcher Sorgfalt die Heringe zubereitet wurden, und sie wusste, dass sie den Verkauf der begehrten Heringe weiterführen musste. Ruth bekommt die Möglichkeit, gröẞere Räume in der alten Räucherei und Bootwerkstatt unten am Kai zu übernehmen. Hier gründet sie nach einem kleinen Umbau und einer Renovierung Ruths Kräuterhering, aber nicht um die Produktion wesentlich zu steigern. Nach Minnas Tod war die Absatzgenossenschaft Svaneke jedoch fester Abnehmer von der gesamten Menge von den Heringen geworden, die Ruth herstellen konnte. Zu Minnas Zeiten ging der Verkauf von Mund zu Mund, aber mit dem Geld, das die Familie von Minna geerbt hatte, kaufte Ruth ein Telefon. Das war, bevor das Telefon ein gewöhnlicher Gegenstand in den Häusern war, aber es wurde jetzt ein wichtiger Gegenstand in Ruths Ausbau des Unternehmens.
Alles in der Produktion ist Handarbeit – von der Kräutermischung, die früher in einer alten Kaffeemühle gedreht wurde, über das Filetieren des Herings bis hin zur Produktion der Lake, in der die Heringsfilets gereift werden. Und das alles nur mit den Händen, die da waren. Als Rikke und Gitte älter wurden, halfen sie Ruth und auch anderen der heimischen Frauen mit dem zeitraubenden Filetieren, das drauẞen am Kai stattfand. Wenn die Kisten mit Hering aus den Kuttern auf den Kai gehievt wurden, mussten die Heringe möglichst schnell geschnitten und auf Eis gelegt werden. Dann mussten sie einige Wochen in einer Grund Lake liegen und danach in der Kräuter Lake reifen. Ruth begann auch mit neuen Geschmacksvarianten zu experimentieren. Ihr persönlicher Favorit war der Zwiebelhering, es war aber ein umständlicher und schwieriger Prozess, Zwiebelheringe in groẞen Mengen herzustellen, deshalb wurde die Produktion davon nach und nach eingestellt. Später kamen Ruths Tomatenhering und Curryhering hinzu, die man immer noch erhalten kann.
Der Kräuterhering wird jedoch immer die Basis in Ruths Kräuterhering bleiben, und in ihn verliebte sich ja auch der Fernsehkoch Claus Meyer, als er von Ruths Produkten erfuhr. Wie ihm der Hering zu Ohren gekommen ist, ist ungewiss, aber die Verbindung könnte durch den Journalisten Rolf Jonshøj zustande gekommen sein, der im Sommer oft auf Christiansø und Frederiksø kam und immer eine Portion von Ruths Heringen mit nach Hause nach Kopenhagen bringen musste. Wie dem auch sei, Ruth erhielt eines Tages einen Anruf von Claus Meyer vom Festland. Ob sie mit ihrem Hering an einer neu gegründeten Lebensmittelmesse für „slow-food“ in Kopenhagen teilnehmen würde? Ja, das würde sie gerne, und sie packte eine beträchtliche Menge ein und nahm sie mit, damit die da drüben in der Groẞstadt kosten könnten. Es war ein groẞartiges Erlebnis. Das Treffen mit all den anderen „slow-food“-Produzenten war spannend, und am Ende der Messe tauschten sie Rohstoffe aus. In den folgenden Wochen wurde im kleinen Haus auf Frederiksø gut gegessen.
Nach der Messe wurde Ruth von FDB (jetzt COOP) kontaktiert, die ihren Hering verkaufen wollte. Ruth war nicht interessiert. Nicht weil sie ihr Licht unter den Scheffel stellt; im Gegenteil, Ruth ist sich bewusst, dass ihr Hering etwas Besonderes ist, aber sie wollte nur an Fisch- und Fachgeschäfte verkaufen, weil, wie sie meint, ihre Produkte dort hingehören. Vielleicht ist es auch deswegen, dass sie darauf bestanden hat, dass der Hering in knallroten Behältern mit einem knallgrünen Aufkleber als Kontrast verkauft werden muss. Sie hat einmal in einer Zeitschrift gelesen, dass Farben die Pferde beeinflussen können. Die rote Farbe macht sie wild, während die grüne Farbe dagegen beruhigt, und in der Weise sollten also ihre Heringe verpackt werden. Genauso kann man argumentieren, dass Ruth sowohl die wilde, kraftvolle Frau ist, die sich entwurzelt, um sich auf Abenteuer einzulassen, als auch gleichzeitig die Frau ist, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht, die anderen in nichts nachsteht. Sie tut, was sie tut, und dann kann man darüber sagen, was man will.
Am Morgen im Spätsommer 2001, als Rikke den Anruf ihrer Mutter erhält, zieht das Abenteuer auch sie in den Bann. Nach einer Denkpause macht sich Rikke auf den Weg nach Hause nach Christiansø. Sie lässt vorerst Mann und Kind auf Bornholm zurück und zieht in das Kinderzimmer bei ihrer Mutter ein mit einem sonderbaren und wunderbaren Gefühl davon, am richtigen Ort angekommen zu sein: zu Hause. 2011 übernahm Rikke schlieẞlich das Unternehmen von Ruth und ihrem dritten Ehemann, Olav, und steht heute allein am Ruder und führt Ruths Kräuterhering mit ihrem eigenen Gespür für das Konzept weiter. Wichtige Facetten dabei sind die Präsenz, der Humor und der gute Kontakt zu den Kunden. Die Freude am Festhalten an den Wurzeln, und an dem, woher man kommt, spürt man deutlich, wenn man mit sowohl Ruth als Rikke zusammen ist.
Heute ist Ruth Anfang achtzig, aber das sieht man ihr nicht an. So wie sie im Wohnzimmer sitzt und erzählt, ruhen ihre Hände nur ab und zu auf den Armlehnen. Hände, die im Laufe der Jahre unzählige Heringe mit unermüdlicher Energie bei jedem Wetter filetiert haben. Hände, die den Hering eifrig und gekonnt verarbeitet haben und unzähligen Menschen unwiderstehliche Geschmackserlebnisse beschert haben. Ruth baute ein solides Geschäft auf, damals als Frauen noch ganz selten unter Unternehmern zu finden waren. Mit dem Rezept ihrer Schwiegermutter als Ausgangspunkt hat sie ein Gourmet Produkt von höchster Qualität und ein Unternehmen geschaffen, das sie an folgende Generationen weitergegeben hat. Denn die Spuren der drei starken Frauen, Minna, Ruth und Rikke, aus ihrer jeweiligen Generation, sind ein wesentlicher Teil der Geschichte von Ruths Kräuterhering; der Humor, der Biss und der Wille, im Kleinen Groẞes zu schaffen.