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Als die Sprache verschwand

Von: Pernille Koch 

Foto: Anders beier


Der schwarze Granit auf der Rückseite des Hauses bildet einen scharfen Kontrast zum Licht über dem Meer. Immer noch scheint die Sonne, aber in diesem Sommer scheint es fast so, als hätte sie schon im Voraus aufgegeben. Der Wind um die Ecke des Gebäudes weht kalt um unsere Füẞe, und wir kauern uns etwas zusammen auf unseren Stühlen. Es ist August, aber es fühlt sich eher wie früher Frühling an. Die Autorin Rakel Haslund-Gjerrild ist auf Bornholm um zu schreiben und hat sich ein Haus etwas oberhalb der Küste auf der kurvenreichen Serpentinerweg nördlich von Gudhjem zur Verfügung stellen lassen. Hier sitzen wir auf einer Terrasse in der abfallenden Landschaft mit Meer und Felsen vor uns und verlieren uns ein bisschen in der gemeinsamen Liebe zu eben diesem Anblick.

– `Es ist wunderschön`, sagt Rakel. – `Ja`, antworte ich. Worte reichen manchmal nicht aus. Stattdessen genieẞen wir einfach in aller Ruhe die Schönheit und die Stille.

Wir sind beide keine echten Bornholmer, denn wir kamen erst als 7-Jährige hierher. Rakel aus Roskilde und ich aus Århus. Dennoch hat die Kindheit, die wir hier verbracht haben, und in der wir aufgewachsen sind, uns in vielerlei Hinsicht entscheidend geprägt. Sie ist entscheidend für unsere Auffassung von der Welt, von der Wirklichkeit und von der Sprache, und nicht zuletzt für unsere Auffassung von der magischen Kraft der Natur und für deren Einfluss auf die Seele.

`Als Kind`, erzählt Rakel, `habe ich oft ganz allein lange Spaziergänge gemacht. Mein Lieblingsort war Paradisbakkerne und Helvedesbakkerne in der Nähe von Nexø. Das sind magische Orte, wo ich sehr gerne war`. Rakel ist in einer engen und sicheren, kleinen Gemeinschaft aufgewachsen, in der man sich um einander kümmerte und aufeinander aufpasste. – `Obwohl ich meinen sicheren, familiären Hintergrund liebte, gab es etwas, das mich weglockte. Wie in einer Sehnsucht oder Suche nach etwas, etwas Undefinierbarem, das ich nur allein mit mir selbst in der Natur würde finden können. Es ist, als ob man im Wald in einer anderen Weise präsent sein könnte, wie ein lauschendes, wahrnehmendes Wesen. In einer Suche`. Rakel macht Pausen und sucht nach den richtigen Worten, während sie spricht und stahlblau auf die Horizontlinie blickt. 

Ihre Worte ziehen Spuren in die Welt des Geschichtenerzählens bis das Jahr 2016, wo sie mit der Kurzgeschichtensammlung `Inseln` debütiert. In der Kurzgeschichte Ins Grüne (Ud i det grønne) wandert die weibliche Hauptperson auf einer ungenannten Insel in einem fast apokalyptischen Szenario in der Nähe von der Stadt Kirkeby durch die wild wachsenden Wälder. Ich kann es nicht widerstehen, Rakel zu fragen, ob die Hauptperson auch mit ihr selbst verwandt ist. Das ist sie natürlich nicht, antwortet sie, aber trotzdem wird die Figur der Kurzgeschichte für meinen inneren Blick immer wildes, lockiges Haar und graublaue Augen haben.

Rakel erzählt von ihren Kindheits- und Jugendjahren auf der Insel und den besonderen Orten: im Wald, auf Skansen südlich von Nexø, von langen Wanderungen im lila Licht des Heidekrauts, vom Blau des Meeres. – `Die Natur hat in mir eine Art Grundsprache geschaffen, wie ein Paket von Wahrnehmungen aus allen Landschaften, die ich kenne und mit mir trage`, erzählt sie. Rakel setzt ihre Erzählung über die Familie fort; über die Wurzeln, die man mit den anderen teilt, über die vielen Generationen von Baptisten in der Familie, über den Glauben an Gott in der Freikirche, und über ihre Groẞeltern väterlicherseits, die Missionare in Rwanda und Burundi waren, wo Rakels Vater geboren wurde. Für den Teenager Rakel mündet das alles in die groẞe existentielle Frage: wer bin ich?

Um die Antwort zu finden, musste Rakel weg, um sich eine neue Perspektive zu verschaffen. Im Gymnasium widmete sie sich ganz der Literatur und besonders der chinesischen Literatur. Dieses Interesse war der Ausgangspunkt für eine lange Reise, die Rakel vom Aufwachsen auf Bornholm fast so weit wie nur möglich wegbringen würde. Durch Kontakte in der Freikirche bekam Rakel für zwei Jahre Arbeit in einer skandinavisch-chinesischen Kunstgalerie in der Yunnan-Provinz in China. In einer Millionenstadt voller Smog und Lärm, Autos überall und mit einer Sprache, die sie nicht sprach, entdeckte die 19-Jährige Rakel wirklich, was es bedeutete, sich ins Unbekannte zu stürzen und den Halt fast zu verlieren. Wie eine Ronja Räubertochter, die auf den glatten Felsen im Mattiswald herumspringt und all das Gefährliche kennen lernt, was sie leicht überwinden kann. Aber dieses Mal war Rakel weit weg von den Wäldern und den Landschaften, die sie kannte. Die bornholmsche Sprache der Kindheit mit dem singenden Ton und den Worten, die ihr vertraut waren, war um sie verschwunden. Jetzt musste alles auf Chinesisch und das bisschen Englisch, das in der Galerie gesprochen wurde, erledigt werden.

Hier in China lebt Rakel allein in dem, was man fast `die romantische Vorstellung vom armen Künstler` nennen kann. Sie mietet ein Atelier in der Nähe von der Galerie, und hier lebt sie in einem primitiven Raum mit Kakerlaken und einer Ratte als Gesellschaft. Das war der Anfang einer langen, inneren Reise, in der sie alles in Frage stellt: den Glauben an das Absolute, an den Glauben, an Gott und an die Sprache, so wie diese von der Realität geformt war, in der Rakel auf Bornholm aufwuchs. 

Nach diesen Jahren – und in dieser Stimmung – verlässt Rakel China. Das kalte Atelier wurde mit einem Studentenstudio in Kopenhagen und Chinastudien an der Universität ersetzt. Im Zusammenhang mit ihrem Studium zieht Rakel später zurück nach China, dies Mal nach Peking, aber entscheidet sich dafür, ihr Studium zu wechseln und stattdessen Literaturwissenschaft zu studieren, teils um näher an die Literatur heranzukommen, teils um selbst zu schreiben. – `Das Weltbild, das im Atelier in China kaputtging, war noch nicht geheilt, und neue Systeme und Perspektiven waren im Aufbau. Vielleicht war das der Grund, warum ich in den Jahren mit dem Schreiben begonnen habe, um durch eine besonders poetische Sprache neue Erzählungen und neue Welten wieder aufzubauen`, sagt Rakel.

Dann passiert etwas, das Rakel zurück nach Nexø bringt. Während sie in den chinesischen Bergen herumreist, um den Reiseführer `Die Reise geht nach China` zu aktualisieren, stirbt ihr geliebter Groẞvater mütterlicherseits, und sie reist nach Hause zu der Beerdigung. – `Mit meinem Groẞvater mütterlicherseits habe ich alle literarischen Gespräche in meiner Kindheit und meiner Jugend geführt. Seine Beziehung zu sowohl Einstein als auch zu Grundtvig stand oft im Mittelpunkt unserer Gespräche,` erinnert sich Rakel, –  `vielleicht war er es, der meine Passion für Literatur und Sprache entfachte?` Die Frage hängt ein wenig in der Luft. Unbeantwortet. Glücklicherweise hat der Groẞvater noch erlebt, dass Rakels Debütroman wenige Monate vor seinem Tod erscheint.

Drei Jahre später, mit dem Tod der Groẞmutter, nimmt die Familie Abschied von einem Leben durch sechs Generationen in Nexø, als die Eltern aus der Stadt wegziehen. Und das bringt Rakels Bewusstsein in den Fokus. Plötzlich sammeln sich die Bilder der Kindheit, der Ausflüge auf Skansen, des Winterbadens vom Strand in Balka, der Landschaften, die so nahe und vertraut sind.

Rakel begann schon in den Jahren vor dem Tod des Groẞvaters ihr erstes fiktives Buch `Inseln` zu schreiben.  `Handelt `Inseln` von Bornholm?`, möchte ich wissen. – `Nein, aber die Landschaften existieren, wenn auch in einem neuen Kontext. Ich schrieb in der Tat das Buch, als ich in Grönland war, wo die Landschaft ja `völlig anders ist, obwohl Grönland auch eine Insel ist.

Die Verbindung zu Bornholm ist jedoch deutlich. Die Sammlung von Kurzgeschichten fängt mit der Erzählung von dem letzten Fischer von Christiansø an, der sich aus reiner Desperation über das Verschwinden der Kabeljaue an den Robben rächt. Eine Problematik, die den Menschen auf Bornholm am Herzen liegt. Aber die Geschichte handelt weder von dem Tod von Kabeljaus noch von dem der Robben. Sie handelt davon, alleine zu sein. Wie auf einer Insel. Oder wie es ist, ganz allein in einer unbekannten Welt zu sein, mit einem gebrochenen Weltbild und mit einer Sprache, die die Welt nicht mehr beschreiben kann. – `Vielleicht würde ich `Inseln` eine Beschreibung des symbolischen Raums für Einsamkeit oder das Alleinsein`, setzt Rakel nachdenklich fort. Ich lasse sie den Gedanken zu Ende denken.

Nach dem Debüt `Inseln` folgt der dystopische Roman `Alle Vögel des Himmels` (Alle himlens fugle), der mit fast symbolischem Timing an dem Tag im März 2020 erscheint, an dem das Coronavirus Dänemark lahmlegt. Im Roman liegt die Welt in Trümmern, die Städte sind verschwunden, und die Sprache ist von mangelndem Zusammenhang und dem Verlust der Kenntnis zur vorhergehenden menschlichen Zivilisation geprägt. – `Ich habe versucht mit dem Gedanken zu spielen, wie die Sprache aussehen würde, wenn die Welt ganz anders wäre. Wenn der letzte noch lebende Mensch in den überwucherten Städten lebte und kaum wüsste, wie die Welt aussah, damals, als es viele von uns gab. Würde dieser Mensch nicht Beton und Asphalt als Felsen und Steine wahrnehmen, Häuser als Orte, in denen Vögel leben, und Straẞen als eine Art steinerne Fuẞwege?` fragt Rakel rhetorisch. 

In dem darauffolgenden Roman `Adam im Paradies` passiert etwas ganz Anderes. Der Roman handelt von dem Bornholmer Maler Kristian Zahrtmann und seinem ausschweifenden Leben als Künstler in Kopenhagen. Der Roman beginnt damit, dass Zahrtmann mit seinen Pflanzen und seinen Träumen in sein Atelier einzieht. Rakel erzählt, wie das Buch in einem intensiven Dialog mit Kristian Zahrtmann selbst in Form seiner vielen hinterlassenen Briefe entsteht. Sie hat sich in die Briefe vertieft und sie durchgearbeitet, um die Sprache zu finden, mit der Zahrtmann seine Welt beschrieb. Der Roman wird für seine einzigartige, poetische Sprache gelobt und gerühmt, und er wird für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert.

`Meine Arbeit mit dem Roman über Zahrtmann hat in mir das Verständnis geweckt, dass Sprache etwas ist, das wir gemeinsam in einem dynamischen Prozess schaffen, in dem wir uns gegenseitig abfärben`, sagt Rakel. – `Es inspiriert mich, mit meinen Freunden Briefe zu schreiben, wo wir mit der Sprache spielen und sprachliche Harmonie schaffen. Die Welt und die Sprache sind miteinander verbunden, es war aber erst als ich aus dem vertrauten Kontext und in einen neuen und fremden Kontext gestellt wurde, dass diese Perspektive sich für mich eröffnete`. 

Man könnte dies vielleicht eine Art Bildungserzählung nennen, die Rakel Haslund-Gjerrild in ihr Leben geschrieben hat. Die groẞe Frage der Jugend „Wer bin ich?“ ist auf jeden Fall durch eine andere und kollektive „Wer sind wir?“ ersetzt worden. Rakels Bildungsreise hat sich von dem Gefühl davon, ihre Welt und ihre Sprache zu verlieren und an ihrer Existenz zu zweifeln wegbewegt, bis hin zu einem Zurückkommen und einer Rückeroberung der Welt, die durch Erzählungen, die Geschichte und eine gemeinsame Sprache gröẞer als das eigene Selbst ist. 

Manchmal muss Rakel nach den Worten suchen, bevor sie herauskommen. – `Das liegt daran, dass ich versuche die Sprache bis auf den Knochen zu schneiden, und dann das Fleisch wieder dran zu legen. Und das ist ein Prozess, den ich gerne in Gemeinschaft mit anderen unternehme. Es ist, als ob das wir, das in mir schreibt, die Sprache noch stärker macht`, erläutert Rakel.   

Hier endet das Gespräch am Haus der kurvenreichen Straẞe in Gudhjem. Der Tag neigt sich dem Ende. Die Worte zwischen uns am Tisch sind verbraucht, und die Sonne ist tiefer am Himmel gesunken. Es war an diesem kühlen Augustnachmittag für mich ein intensives Erlebnis, einen Einblick in Rakel Haslund-Gjerrinds Sprachuniversum und Geschichte bekommen zu dürfen. Mein Notizbuch ist voller Wörter, die darauf warten, ihre Form zu finden, in der Geschichte von einer Reise von Bornholm nach China und wieder zurück und von der Sprache, die am Ende ihren Weg gefunden hat.


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