Von: Martin Poul Gangelhoff
Foto: Anders beier
Vor den Autofenstern wird die Frühlingsnacht nach und nach von den ersten Sonnenstrahlen verdrängt. Es ist vier Uhr, und es wird noch fast eine Stunde dauern, bis die Sonne am Horizont aufgeht. Aber für die beiden im Auto ist der Zeitpunkt ganz und gar perfekt. Sie sind Jäger auf dem Weg zum `Heiligabend der Jäger`. Das Datum ist der 16. Mai, wo die Pirschjagd auf Rehwild beginnt, und die beiden müssen im Morgengrauen bereit sein.
Die Jäger im Auto sind Emelie Cecilie Petterson und Tommy Bager. Tommy war schon oft auf Rehwildjagd, aber Emelie hat erst vor ein paar Wochen die erforderte Gewehrschein für die Rehwildjagd erhalten und wird ihren ersten Bock jagen. Allerdings hat sie schon oft anderes Wild gejagt, und im Auto spürt sie, wie der bekannte Jagdinstinkt sie erfüllt. Als Emelie aus dem Auto steigt, um sich auf den Waldrand zuzubewegen, wo ihr gewählter Jagdturm steht, ist sie hundertprozentig im `Jägermodus`. Neben dem Gewehr auf ihrer Schulter, erkennt man es an ihrer Jagdkleidung in Tarnfarben und die Art und Weise, wie sie sich fast lautlos durch die Landschaft bewegt.
Kurz darauf sitzt sie allein in ihrem kleinen Turm, der 3 – 4 Meter über dem Boden emporragt und einen guten Blick auf das Feld vor ihr ermöglicht. Es gibt einen Waldrand 300 Meter weiter entfernt, und bald werden hoffentlich ein oder zwei Böcke aus dem Wald kommen, um auf der Feldwiese zu frühstücken. Emelie sitzt bereit, die Sonne geht auf, und dann … nichts. Keine Böcke, nur ein paar Hasen, die am Fuẞe des Turms herumhüpfen. Die Sonne steigt weiter auf, aber immer noch keine Böcke. Es ist ein kalter Morgen, aber Emelie hat, um sich warm zu halten, Kaffee mitgebracht -und groẞe Geduld. Sie wartet weiter.
Um Viertel vor acht geschieht endlich etwas. Drei Böcke kommen lautlos aus dem Wald. Der eine ist ein prächtiger Erwachsener mit einem prachtvollen Gehörn. Ein Stirnschmuck ist das, was viele in der Alltagssprache ein Geweih nennen würden. Aber in der Jägersprache ist ein Geweih den Männchen gröẞerer Hirscharten vorbehalten, wie z.B. ein Edelhirsch, während Männchen kleinerer Hirscharten Gehörn haben. In ihrem Turm konzentriert sich Emelie mit allen Sinnen auf den Bock. Aber er ist zu weit weg. Der Abstand von ihrem Gewehrlauf bis zum Bock beträgt etwa 200 Meter, und das ist zu weit, wenn die hoffnungsvolle Jägerin sicher sein soll, präzise zu treffen. Und ein guter Jäger geht auf Kosten des Tieres kein Risiko ein. Kein Wild darf leiden, damit der Jäger Essen auf den Tisch bekommt. Dieser Grundsatz ist tief in Emelie verankert, seitdem ihr Vater sie im Alter von sechs Jahren mit auf die Jagd nahm. Leider kommt der Bock nicht näher, und zwanzig Minuten später sind er und die anderen beiden Rehe zurück in den Wald gewandert, um dort eine Verdauungspause zu machen.
Die Zeit für Emelies Traumdebüt als Bockjägerin wird knapp. Sie ist kurz davor aufzugeben und zurückzukehren, um sich mit den anderen Jägern zur Strecke zu treffen, wo die erlegten Böcke vorgezeigt und geehrt werden. Tommy schlägt vor, dass sie zu einem anderen Turm in der Nähe pirschen, um dort einen letzten Versuch zu unternehmen. Mit dem Bogen auf dem Rücken und dem Fernglas vor den Augen zeigt er den Weg. Als sie den Fuẞ des Turms erreichen, erblickt Tommy einen Rehbock. Emelie klettert lautlos auf den Turm und schaut vorsichtig über die Kante, um die Position des Bocks zu bestimmen. Er steht gut 80 Meter vom Turm entfernt. Ruhig nimmt sie ihre Schussposition ein, hebt das Gewehr an die Wange und findet den Bock durch ihr Zielfernrohr. Das Gehörn des Bocks ist ein Sechsender, welches bedeutet, dass es sich um einen erwachsenen Bock handelt.
Das Zielfernrohr findet sein Ziel, während Emilie tief Luft holt und anhält. Langsam erhöht sie den Druck auf den Abzug. Ein bisschen mehr, noch ein bisschen und dann … Der Knall des Schusses durchbricht die Stille des Waldes, die jedoch schon wenige Augenblicke später wiederkehrt. Der Bock springt in Richtung Wald, aber Emelie weiẞ, dass sie genau getroffen hat. Sie packt das Gewehr ein und macht sich mit ihrem Mann auf die Suche nach der Beute. Sie finden Blutspritzer auf dem Gras, wo er stand. Einige helle, rote Klumpen im Blut lassen vermuten, dass der Bock von einem Lungenschuss getroffen wurde. Das Paar muss nicht lange suchen, denn direkt am Waldrand liegt der Bock. Hier hat der frische Waldboden das Blut des Bockes aufgesaugt, und die Wärme seines letzten Ausatmens ist in der Luft verschwunden.
Nach einer kurzen Fahrt ist der Bock mit fünf anderen erlegten Böcken zur Strecke aufgereiht. Zusammen mit den anderen Jägern der Gegend – sowohl denjenigen, die einen Bock erlegt haben, als auch denjenigen, denen es nicht gelungen ist – zeigt Emelie ihren Respekt vor den toten Tieren. Sie neigen den Kopf, und diejenigen, die einen Hut oder eine Mütze tragen, nehmen ihn ab. Ihr Bock ist nicht der gröẞte der sechs, aber nah dran. Die anderen Jäger loben sie wegen ihres ersten Bocks – und das sogar bei ihrer ersten Bockjagd. Ein Triumph, der nur wenigen Jägern gegönnt ist. Emelie hat also allen Grund, stolz zu sein. Nicht nur wegen der kameradschaftlichen Anerkennung, sondern auch weil sie mit ihrer Beute zu dem nachhaltigen Leben beiträgt, das sie und ihre Familie anstreben.
An diesem 16. Mai 2023 gibt es zu Dutzenden von zur Strecke gelegenen Böcke rund um auf Bornholm. Die Insel ist reich an Rehen, aber auch an Enten, Fasanen, Waldtauben und Waldschnepfen. Die Jäger versammeln sich in privaten Wäldern und in den Jagdgebieten der Naturschutzbehörde. Nicht zuletzt im mächtigen Almindingen, wo es allmählich zur Tradition geworden ist, dass die königliche Familie am `Heiligabend der Jäger` teilnimmt. In den letzten Jahren hat Seine Majestät König Frederik teilgenommen, und vor ihm war es sein Vater Prinz Henrik. Die Königlichen sind nicht die einzigen, die gerne auf Bornholm jagen. Auch Jäger aus anderen Teilen Dänemarks gehen auf Bornholm auf die Jagd, und sie kommen wieder, sobald sie die Jagd durch Bornholms wunderschöne und vielfältige Natur erlebt haben.
Für Emelie steht gerade das Naturerlebnis im Vordergrund, wenn sie in den Wäldern auf Bornholm auf die Jagd geht. Hier kann sich ein Naturmensch wie sie entfalten und sich frei fühlen. Es geht aber auch darum, die Natur auf natürliche Weise zu nutzen, indem Emelie und ihre Familie Fleisch aus dem Wald beziehen, um es das ganze Jahr über ein Teil des Haushalts werden zu lassen. Sie finden, dass dies die nachhaltigste Art ist, Fleisch zu essen, anstatt importiertes Fleisch aus den Kühltheken der Läden zu kaufen. Emelie betont, dass der groẞe Vorteil ihr eigenes Fleisch zu jagen darin besteht, dass sie weiẞ, dass es nachhaltig ist. Sie hat gesehen, dass das Tier gesund war und gut gelebt hat, bevor sie es getötet hat. Und bei der anschlieẞenden Zerstückelung und Zerlegung wird ihr bestätigt, dass das Tier ein gesundes und freies Leben geführt hat.
Für Emelie ist die Jagd vergleichbar mit der Suche nach einem nachhaltigen Leben. Die Jagd ist ein Teil der Bemühungen von ihr und ihrer Familie, ein besseres Gleichgewicht zwischen sich und der Natur zu schaffen. Deshalb haben sie sich auch dafür entschieden, drei Generationen unter einem Dach auf einem Bauernhof nahe Rutsker zu leben. Emelie und ihr Mann, Tommy, und ihre beiden Kinder sind bei ihren Eltern eingezogen. Die drei Generationen vereinen ihre Kräfte und haben so Zeit, sich sowohl um die Arbeit im Schmiedebetrieb des Paares als auch um die Freizeitlandwirtschaft der Familie zu kümmern, zu der auch ein paar Schweine, ein paar Pferde und einige Hühner gehören. Es bietet mehr Freizeit, um das gemeinsame Interesse der Familie an der Natur und der Jagd zu pflegen. Die Familie hat fünf Hektar Wald gekauft, in dem sie nicht nur nach Fleisch, sondern auch nach frischer Luft, Freiraum und Freiheit jagt. Gleichzeitig kümmern sie sich um die Natur, indem sie sowohl den Wildbestand regulieren als auch neue Bäume und Pflanzen im Wald pflanzen, um neue Zufluchtsorte für die Tiere zu schaffen.
Für Emelie ist es in der Tat ein einfaches Leben, in dem es grundsätzlich darum geht, die Natur zu respektieren, sie zu pflegen und ihr etwas zurückzugeben, jedes Mal, wenn man etwas genommen hat. Sie nennt dieses `einen basalen Umgang mit der Natur`, aber diese Philosophie ist in Wirklichkeit eine uralte Weisheit, die nach und nach durch die Industrialisierung und die Konsumgesellschaft verdrängt worden ist. Nachhaltige Jagd ist aus dieser Perspektive nur ganz normale Jagd, bei der der Mensch gleichberechtigt mit anderen Raubtieren eine Beute erlegt, aber nie mehr, als was nötig ist. Dies ist auch der Grund, warum der Jagdinstinkt bei Emelie so einfach ist. Für sie ist es weder ein Hobby noch ein Sport. Für sie ist die Jagd völlig natürlich und der Jagdinstinkt dem Menschen angeboren. Nicht jeder Mensch versteht den „Trick“, wie sie sagt, aber für Emelie Cecilie Petterson war es eine erfolgreiche erste Bockjagd. Eine Jagd, bei der sie ihre Kompetenzen, ihre Sinne und ihren natürlichen Jagdinstinkt eingesetzt hat. Ein Instinkt, der sich jetzt im `Winterschlaf` befindet, bis sie sich das nächste Mal in den frühen Morgenstunden in Tarnkleidung und mit einem Gewehr über der Schulter auf den Weg in die Landschaft Bornholms macht.
Und gerade die Natur Bornholms ist ideal, um den Jagdinstinkt zu testen. Aber bevor man auf die Jagd gehen darf, muss man natürlich einen Jagdschein besitzen. Unabhängig davon, ob man ein erfahrener Jäger, ein Anfänger oder einfach nur neugierig auf die Jagd ist, bieten die Wälder auf Bornholm eine abwechslungsreiche Natur mit viel Wild. Es ist ein zeitloses und harmonisches Erlebnis, sich mit dem Milliarden Jahre alten Grundgestein unter den Füẞen durch die Bornholmer Wälder zu schleichen. Der Jäger kann die gewohnte Spannung der Jagd genieẞen, gleichzeitig damit dass die Natur die Sinne in einer Symphonie aus den Farben der Bäume, den Düften des Waldes und den Gesang der Vögel umarmt. Bornholm ist für den Jäger ein idealer Ort, um auf das intensive Gefühl bei der gut geplanten Erlegung eines schönen und gesunden Stückes Wild zu warten. Genau so wie es unsere Vorfahren seit Jahrtausenden getan haben.