Text: Mads Westermann Foto: Anders Beier
Hinter einem der markantesten Gebäude Bornholms – dem Stammershalle Badehotel, einem großen gelben Fachwerkhaus mit herrlichem Blick über die Ostsee und die Ertholmene-Inseln – verbirgt sich eine der am meisten übersehenen Attraktionen der Insel. Ein kleines Wunder, das fast unbemerkt bleibt. Ein Wald, wie aus einem Märchen der Gebrüder Grimm. Ein Wald, in dem einst Löwen brüllten und Bären durch das Unterholz streiften. Ein Wald, der mit den Jahreszeiten sein Gesicht verändert und Geschichten aus einer Zeit erzählt, als Bornholm noch mit Polen und Deutschland verbunden war.
Willkommen im Troldeskoven – dem Trollwald –, wo Wirklichkeit und Märchen ineinander übergehen.
Früher trug er einen recht nüchternen Namen: Köllergaardskov, benannt nach dem nahegelegenen Bauernhof, der noch heute etwa einen halben Kilometer landeinwärts liegt. Doch Touristen verlangen bekanntlich nach etwas mehr Dramatik – und als sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Scharen nach Bornholm kamen, musste ein passender, zauberhafter Name her.
So wurde aus dem Wald der Troldeskoven – der Trollwald – oder, wenn es besonders poetisch sein sollte, Elverhøjsskoven – der Wald des Elfenhügels.
In der Troldeskoven leben keine Trolle – außer vielleicht den Unterirdischen, die man überall auf Bornholm vermutet. Aber das ist eine andere Geschichte. Die Troldeskoven ist wie ein Märchenbuch, in das man hineingehen kann. Es ist, als würde man eine unsichtbare Grenze zu einer anderen Welt überschreiten. Als würde man eine Kulisse aus einem Märchen der Gebrüder Grimm betreten, in der die Geschichten nur darauf warten, erzählt zu werden.
Zwischen den knorrigen Bäumen dieses wilden Waldes verbergen sich Spuren von Bornholms ersten Bewohner:innen – Nachkommen der Jäger und Sammler, die in der Steinzeit aus dem Süden kamen, als Bornholm noch über Land mit dem heutigen Polen und Deutschland verbunden war.
Und zwischen den überwucherten Pfaden entdeckt man auch die Reste des ersten zoologischen Gartens auf Bornholm– einst eine Attraktion, die Tausende von Einheimischen und Tourist:innen anzog.
Die Natur der Troldeskoven ist eigenwillig und zeigt bei jedem Besuch neue Details und Eindrücke. Alles, was du siehst, riechst, hörst und fühlst, verändert sich stetig. Es ist ein Wald, der im Laufe des Jahres immer wieder ein neues Gesicht annimmt.
Im Sommer wird der Wald zu einem üppigen Garten. Sonnenstrahlen dringen durch das dichte Blätterdach und werfen verspielte Schatten auf den Waldboden. Die Luft ist erfüllt vom Duft frischer Blätter und feuchter Erde. Staub, Pollen und tanzende Mücken werden sichtbar im Licht, das zwischen den Baumwipfeln hindurchfällt. Der Gesang der Vögel, begleitet vom leisen Rauschen des Windes in den Kronen, bildet ein fast musikalisches Klangbild.
Wenn der September dem Herbst weicht, hüllt sich der Wald in ein flammendes Kleid. Die Blätter färben sich goldgelb und tiefrot. Das Laub raschelt unter den Füßen, und die Luft trägt nun den würzigen Geruch des Verfalls. Die sanften Sommerwinde sind scharfen Böen gewichen, die die Äste zum Knarren bringen – wie das Tauwerk eines alten Segelschiffes, das vom Wind bewegt wird.
Ab Dezember liegt der Wald in stiller Ruhe. Die kalte Luft beißt in die Wangen, und der Ostwind trägt den Geruch des Meeres tief zwischen die Bäume. Hin und wieder legt sich Schnee wie ein weißer Teppich über die Landschaft und dämpft alle Geräusche – außer dem Knirschen der Stiefel im Schnee, wenn man durch den schweigenden, in Winterschlaf versunkenen Wald wandert.
Im März kündigt sich der Frühling an. Der Wald erwacht zum Leben. Buschwindröschen, Schlüsselblumen, Lerchensporne und weißer Mauerpfeffer brechen durch die Erde und überziehen den Waldboden mit einem farbenfrohen Teppich. Den Anfang machen zarte Triebe der blauen Anemone. Und wenn sich im Mai, kurz nachdem die Buchen ihr frisches Grün zeigen, der letzte Akt der Anemonensaison abspielt, tanzen die blassblauen Anemonen den finalen Reigen. Ein Anblick, der an Monets Seerosenbilder erinnert.
Überlieferungen erzählen, dass die blassblaue Anemone – auch bekannt als Apenninen-Windröschen – Mitte des 16. Jahrhunderts von dem dänischen Adligen Peder Oxe nach Bornholm gebracht wurde. Oxe, der angeblich mehrere Höfe auf der Insel besaß und sich für Botanik interessierte, soll die unscheinbare bläulich-graue Blume von einer Bildungsreise durch Norditalien in seinem Koffer mitgebracht haben.
Ob diese Geschichte wahr ist, weiß niemand so genau. Aber sie ist gut erzählt. Und wie der Schriftsteller Mark Twain sagte: „Man soll die Wahrheit nie einer guten Geschichte im Weg stehen lassen.“
Eine Geschichte, die wahr ist, ist die von Elverhøj. Nicht die aus Heibergs Theaterstück, sondern die Geschichte des riesigen Findlings, der tief in der Troldeskoven liegt. Elverhøj ist ein sogenannter Wanderblock, ein Gesteinsbrocken, der während der letzten Eiszeit hierher transportiert und vor etwa 12.000 Jahren an diesem Ort zurückgelassen wurde, als sich das Eis wieder nach Norden zurückzog.
Und was für ein Stein! Selbst für bornholmsche Verhältnisse ist es ein imposanter Koloss. Sechseinhalb Meter hoch und rund 430 Tonnen schwer liegt Elverhøj mitten im Wald – wie ein Denkmal für die gewaltige Kraft der Eiszeit und den prägenden Einfluss, den sie auf die heutige Landschaft hatte.
Doch Elverhøjs Geschichte ist nicht nur geologischer Natur. In einer natürlichen Höhle unter dem großen Stein fanden Archäologen Spuren von Bornholms ersten Bewohner:innen – Menschen, die vor 6.000 Jahren hier Schutz suchten.
Damals lag der Wasserspiegel der Ostsee höher, und Elverhøj befand sich näher am Meer – ein idealer Ort, um ein Feuer zu entzünden und sich vor Wind und Wetter zu schützen, während man durch die wenigen knorrigen Küstenbäume ins dunkle Nichts hinausblickte. Man kann sie sich gut vorstellen: Wie sie mit dem Rücken an der rauen Steinwand sitzen, den Wellen lauschen und sich Geschichten über Trolle und verborgene Welten erzählen. Geschichten, die wir auch heute noch erzählen.
Viele Generationen später – in der jüngeren Eisenzeit – lebten immer noch Menschen an der Küste nahe der Troldeskoven. Irgendwann kam jemand auf die Idee, vierzehn massive Steine so aufzustellen, dass sie die Umrisse eines Schiffes bilden. Eine solche Steinsetzung wird als Schiffsetzung bezeichnet und diente vermutlich als Grabdenkmal. Ihre Form symbolisierte die letzte Reise des Verstorbenen ins Totenreich.
Zwar hat kein:e Archäolog:in die Anlage je ausgegraben, doch Funde von verbrannten Knochen und Grabschichten aus dem Jahr 1890 deuten darauf hin, dass hier einst jemand stand – und einen Angehörigen auf seinem Weg ins Jenseits verabschiedete.
Zwischen den knorrigen Baumstämmen findet man auch Spuren aus jüngerer Zeit. In den 1930er-Jahren verwandelte der damalige Besitzer des Hotels Stammershalle, ein Herr Mecklenburg, die sechs Morgen Land rund um das Hotel in einen kleinen Vergnügungspark – mit Schießbuden, Tombola, Karussells und einem eigenen Zoo. Es wurde ein wahrer Publikumsmagnet.
Bären, Löwen, Affen – ein ganzes exotisches Menageriesammelsurium wurde in Käfigen zwischen den Felsen präsentiert. Als der Zoo zu Ostern 1934 öffnete, zählte man innerhalb weniger Wochen rund 5.000 zahlende Besucher:innen. Mecklenburg dürfte mit seiner Idee und Investition zufrieden gewesen sein.
Heute ist nur noch die Bärenhöhle erhalten – ein kleiner Betonverschlag, in dem einst zwei malaysische Sonnenbären lebten, sogenannte Malabären. Ein Überbleibsel aus einer Zeit, in der das Tierwohl nicht besonders hoch im Kurs stand.
Doch die Faszination für Löwen und Bären hielt nicht ewig. 1937 musste Mecklenburg sich von seinen vier Löwen trennen – sie waren schlichtweg zu teuer in der Haltung. 15 Pfund rohes Fleisch pro Tag und Löwe waren im Dänemark der 1930er-Jahre kein Pappenstiel. Aber niemand wollte die Tiere übernehmen. Und so nahm die Geschichte ein trauriges Ende: Die prächtigen Tiere mussten eingeschläfert werden.
Kein Bornholmer traute sich, die erwachsenen Löwen zu töten. Deshalb wurde im September 1937 ein Jäger aus Seeland gerufen, um die Löwen zu erschießen. Die Szene war makaber. Die Zeitung Bornholms Socialdemokrat entsandte einen Reporter, der bildreich schilderte, wie die Löwen mehrere Meter in die Luft sprangen, bevor sie zu Boden sanken.
Als Bezahlung für seinen Dienst wählte der Jäger eine 13 Jahre alte Löwin mit einem Gewicht von 150 Kilogramm aus. Er transportierte sie auf dem Gepäckträger seines offenen Wagens nach Seeland. Dort, mitten in einer Straße in Hillerød, ließ er sich in Reitstiefeln und Uniform mit der toten Löwin fotografieren – ein makabres Zeitdokument.
Wenn man genug hat von uralten Geschichten und wilder Natur, wartet auf der anderen Straßenseite noch ein kleiner Schatz – versteckt in den Felsen am Wasser, gegenüber der Hotelterrasse: ein Anlegesteg.
In seiner Blütezeit – vor über hundert Jahren – war er die Ankunftsstelle für Hotelgäste, die per Schiff gebracht wurden. Damals gab es auf Bornholm noch keine asphaltierte Küstenstraße. Dann kamen die Autos, der Steg verlor seine Bedeutung – und 1948 wurde er schließlich von Wellen und Eis zerstört.
Zum Glück wurde er 2018 wieder aufgebaut – diesmal als Badebrücke, zugänglich für Hotelgäste, aber auch für alle anderen. Ein Geschenk an uns alle. Denn nach einem ausgiebigen Spaziergang durch die Troldeskoven gibt es kaum etwas Erfrischenderes, als in die kühle, kristallklare Bucht hinabzutauchen.
Und wenn man dann im Wasser abgekühlt ist – was könnte passender sein, als den Ausflug ins Märchenland mit einem Glas spritzigem, kühlen Weißwein auf der Hotelterrasse ausklingen zu lassen – mit Blick auf die Ostsee und die Ertholmene-Inseln?